Sir Georg Solti
21. Oktober 1912 - 5. September 1997



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Aus einem Interview von 1989 (an dieser Stelle gekürzt wiedergegeben)

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Zu Ihrem jüngsten Einspielungen zählt Brahms erstes Klavierkonzert mit Andras Schiff. Als Zugabe spielen Sie mit ihm vierhändig die Schumann-Variationen
Das hat mir viel Spaß gemacht. Obwohl ich das Stück vorher nicht kannte, hatten wir es an einem vormittag im Kasten. Leider läßt mir meine dirigentische Arbeit wenig Zeit fürs Klavier, ich will noch so viele Wege gehen.

Dazu zählt Ihr aktueller Beethoven-Zyklus, der einen anderen Solti zeigt als in den Jahren 1972 bis 1974.
Ich habe lange gezögert, erneut an Beethoven heranzugehen, obwohl durch die CD ein außermusikalischer Anlaß gewesen wäre. Doch ich wollte mich nicht selbst kopieren. Dann, mit der Arbeit zur Neunten, die ich zum 75. Geburtstag geschkenkt bekam, wurde das neue Bild klarer. Die Neunte ist noch halb alt und neu. Seither habe ich wirklich alles radikal geändert.

Wo setzen Sie an?
Überall. Beim Ausdruck, im Tempo. Ich ging beispielsweise so nah wie möglich an die Tempo-Vorgaben Beethovens heran.

Die sind teilweise enorm schnell.
Schnell, aber durchaus möglich. Man muß nicht sklavisch jede einzelne Metronomziffer befolgen. aber der Stückcharakter gewinnt mit dem schärferen Tempo völlig neue Seiten. Die Fünfte wird zu einer michelangeloischen Marmorskulptur. Diese Symphonie ist nicht romantisch, sie ist klassisch. In der Vergangeheit habe ich mit vielen Tempoverschleppungen vielleicht zu sehr in der romantischen Soße gerührt.

Werden Sie Wagner ähnlich radikal neu vorstellen?
Ich habe damit geflirtet, den "Ring" noch einmal digital aufzunehmen. Aber wir brauchten damals über 100 Sitzungen - dazu hätte ich heute nicht mehr die Kraft. Ich denke, das Ergebnis kann sich in der digitalen Überarbeitung auch jetzt noch hören lassen. Außerdem gibt es heute keine Birgit Nilsson, keinen Wolfgang Windgassen, keinen Hans Hotter mehr.

Und Mahler?
Mahlers Symphonien habe ich von 1961 bis 1972 das erste Mal komplett aufgenommen, teilweise noch mit dem Concertgebouworkest und dem LSO. Bis 1984 habe ich dann meinen Chicagoer Mahler sukzessive mit dem CSO komplettiert. An diesen Einspielungen werde ich wahrscheinlich nicht merh rütteln.

Sie haben einmal gesagt: "Wenn ich jemals zufrieden mit mir sein sollte, dann kann ich ja aufhören."
Richtig, aber ich habe so viele andere Aufgaben, von denen mich ein neuer Wagner-Ring oder Mahler-Zyklus ablenken würden. Schostakowitsch, Bruckner warten - und Bach...

... dessen h-Moll-Messe Sie einspielen werden und dessen Matthäus-Passion Sie zwar erst vor einem Jahr aufnahmen, aber bereits 1947 in München aufführten.
Ich bin mit Bach groß geworden, er war immer mein Gefährte, bis zum heutigen Tag. Alle Komponisten, mit denen ich mich auseinandersetzte, liebte ich mal weniger, mal mehr. Bis auf zwei, bei denen meine Liebe nie schwankte: Mozart und Bach. Und die Matthäus-Passion liebe ich mehr als alles andere. Es ist die schönste, menschlichste Aussage, die ein Musiker je machte.

Wie schaffen Sie es als Jude, den Leidensweg Christi darzustellen, und dies ausgerechnet in Deutschland nur zwei Jahre nach Hitler?
Sie dürfen nicht vergessen, daß Jesus Christus ein Jude war. Außerdem ist die Matthäus-Passion ja nicht nur Religion. In diesem Werk geht es um Menschen, darum, wie er leidet durch die Massenhysterie und die Dummheit der Menschen. "Kreuziget ihn" oder "Vergast sie" - es ist das gleiche. Ehrlich gesagt, hatte ich damals Angst vor Ausschreitungen. Doch ich wurde mit offenen Armen aufgenommen, wie mir überhaupt auch später niergends eine solche Sympathie entgegenschlug wie in Deutschland. Mir ist hier nie etwas Schlimmes widerfahren.


[...]

Werden Sie denn die Sowjetunion besuchen?
Im Moment verhandeln wir noch über eine Tournee duch die UdSSR. Ich glaube, wir wären das erste westliche Orchester, das dort tourt. Das erste, und dann gleich das beste - die Sowjets werden beeindruckt sein. Sie haben gute Orchester, aber einfach nicht unsere Klasse. (Anm. Gemeint ist das CSO; es ist 1989.)

Woran liegt das?
Zum einen an der Ausbildung, die in Amerika besser ist als im Ostblock, übrigens auch besser als in Europa. Dann ist der Musikerberuf heute ein anständiger Beruf in Amerika und gut bezahlt, die Leute müssen nicht mehr betteln. Und die amerikanischen Hochschulen haben viele Sptizenlehrer, unter anderem viele aus Europa vertriebene Juden. Gute Lehre sind das A und O der Musikkultur.

Lehren Sie denn?
Jedes Jahr vergeben wir in Ungarn Stipendien und laden die Musiker nach Chicago ein. Für Dirigenten geben ich etwa alle drei bis vier Jahre Meisterkurse.

War Christoph von Dohnányi auch einmal in einem solchen Kurs?
Nein, aber er war mein Repetitor in Frankfurt.

Sein Großvate Ernst war ja einer Ihrer Lehrer.
Genau. Und Christoph ist enorm begabt.

Erwächst Ihnen da nicht starke Konkurrenz in Cleveland?
Aber nein, ich bin so viel älter. Wenn ich 50 wäre, ja dann. Aber inzwischen stehe ich schon ein bißchen darüber. Ich bin einer der aussterbenden Buffalos.

Vor kurzem strahlte am Dirigentenhimmel noch das Dreigestirn Solti, Bernstein und...
... Karajan. Jetzt sind wir leider nur noch zwei.

Gab es zwischen Ihnen dreien jemals Rivalitäten?
Ach was, mit Bernstein habe ich seit Jahren ein freundschaftliches Verhältnis. Mit Karajan hatte ich zu meinem Leidwesen lange keinen Kontakt. In den letzten zwei Jahren entstand plötzlich eine Beziehung. Er hat mich angerufen, lud mich ein nach Salzburg. Es ist also nicht so, daß ich die Zauberflöte und die Frau ohne Schatten mache, weil er gestorben ist, sondern weil er mich darum bat. Er wollte unbedingt Frieden mit mir schließen, streckte die Hand aus, und ich habe sie mit Freuden ergriffen. Ich dachte, daß er noch sehr lange leben würde, denn trotz seiner körperlichen Gebrechlichkeit war er geistig absolut fit.

Bei Ihrer Vitalität, Ihrer Energie und Ihren Plänen kann man nur hoffen, daß Sie 100 Jahre alt werden.
Ja, das würde ich gern.






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